
Wie du erkennst, ob dein Baby ein „High Need Baby“, ein „Schreibaby“ ist, oder eine „Regulationsstörung“ hat
Eins vorab: Ja! Es gibt sie! Diese intensiven Babys, denen nichts recht zu machen scheint. Die viel weinen, ja sogar stundenweise schreien, obwohl man doch alles „richtig“ macht. Sie sind lauter. Intensiver. Haben höhere Ansprüche, mehr Bedürfnisse als Andere. Aber. Das ist überhaupt nichts Schlimmes! Um dich da direkt mal zu beruhigen. Es ist nur eine weitere Herausforderung in unserem Leben, die es zu meistern gilt. Das ist gar kein Problem, wenn du dich darauf einlässt, das siehst und akzeptierst, und ganz auf dich und dein Baby hörst!
Aber mal vorab. Was bedeuten die Begriffe eigentlich?
„High Need Baby“ ist kein klinisch korrekter Ausdruck. Babys, die man unter „High Need“ einkategorisiert, werden in der Fachsprache weiterhin „Schreibabys“ genannt. Es gibt eine extra Anlaufstelle für Familien mit einem Schreibaby, die Schreiambulanz.
Vielleicht habt ihr auch schon mal von einer Regulationsstörung gehört. Regulationsstörungen sind ungleich einem Schreibaby. Das kann zusammen hängen, muss aber nicht. Das Schreien definiert man hier eher als Symptom der Störung.
Nun zu DEM Begriff. Der Begriff „High Need Baby“ kommt aus dem US-amerikanischen Raum und wurde von Dr. William Sears, einem Kinderarzt aus Kalifornien, geprägt. Er selbst hat 8 Kinder (wie hat der das bitte geschafft?), eins davon war „auffällig“: es brauchte besonders viel Aufmerksamkeit, wollte immer viel getragen werden und schien dennoch immer unglücklich. Seine anderen Kinder waren im Vergleich „unauffällig“. Auch in seiner Praxis hatte er immer wieder Kinder, die ähnliche Verhaltensweisen zeigten.
Schon kurz nach der Geburt kann man ein „High Need Baby“ erkennen. Sie schreien besonders laut und fordernd, wirken immer unruhig und selten völlig entspannt. Werden ihre Bedürfnisse nicht sofort erfüllt, schreien sie wie am Spieß. Sie beruhigen sich nicht von alleine, sie brauchen auch lange Zeit nach der Babyzeit eine Co-Regulation durch die engsten Bindungspersonen. Zu Beginn, sowie später im Kleinkindalter, sind sie sehr aufgeweckt und wissbegierig. Aber. Es ist nicht gleichzusetzen mit Hyperaktivität. Darauf folgt nicht zwangsweise die Diagnose ADHS. In diesem Bereich gibt es keine nachgewiesenen Zusammenhänge, jedoch wohl Überschneidungen in den „Symptomen“ (wobei mir der Begriff zu defizitär ist).

Sears entwickelte auf Grundlage seiner Beobachtungen 12 Kriterien zur Erkennung eines „High Need Babys“, welche ich im Folgenden kurz beschreibe:
- Intensiv: Bringen ihre Gefühle auf intensive Weise zum Ausdruck
- Hyperaktiv: Hirn und Muskeln befinden sich stets in Bewegung und sind unruhig
- Anstrengend: Die Umsorgung ist sehr Kräfte zehrend
- Häufiges Füttern: Stillen ist nicht nur Nahrungsaufnahme, sondern primäres Mittel zum Trösten
- Fordernd: Sie mögen es nicht zu warten und haben es immer eilig
- häufiges Aufwachen: Sie haben einen leichten Schlaf und wachen zwischen den Schlafphasen häufig auf
- Unzufrieden: Sie scheinen immer unzufrieden
- Unberechenbar: was heute funktioniert, muss nicht für morgen gelten
- Hochsensibel: Sie sind ihrer Umwelt gegenüber sehr sensibel, schrecken schnell auf
- Nicht ablegbar: benötigen viel Körperkontakt
- Schläft nicht alleine ein: benötigt viel Hilfe beim Einschlafen
- trennungsempfindlich: Sie mögen es nicht, von ihrer Bindungsperson getrennt zu werden
Weitere Informationen gibt es in dem Buch von Sears „Das 24 Stunden Baby – Kinder mit starken Bedürfnissen verstehen“.
Die Unterscheidung zum sogenannten „Schreibaby“ liegt darin, dass „High Need Babys“ nicht unbedingt immer weinen.
Sie können durchaus auch sehr zufrieden sein, wenn all ihre Bedürfnisse gestillt sind. Aber. Sie haben eben starke Bedürfnisse, die nichts mit mangelnder Reife oder konkreten Ursachen zu tun haben. High Need Babys zeigen meist auch später, im Kleinkindalter, sehr deutlich, was sie brauchen.
Bei „Schreibabys“ ist die intensiv fordernde Zeit nach einigen Monaten vorbei. Hierzu gibt es die berühmte 3er- oder Wessel-Regel, um ein Schreibaby zu erkennen. Die Regel besagt, dass ein Baby dann als viel weinendes Baby gibt, wenn es (mehr als) drei Stunden am Tag an drei Tagen die Woche über einen Zeitraum von insgesamt drei Wochen schreit. Dabei muss das Baby nicht drei Stunden am Stück schreien, das kann sich auch über den Tag verteilen. Meine Tochter z.B. hat durchaus mal (öfter) drei Stunden am Tag geschrien, doch die 3er-Regel konnte ich nie unterschreiben. Letztendlich gibt es aber wohl auch kaum Eltern, die mit der Stoppuhr neben ihrem Baby sitzen und nachmessen, wie lange und wie oft es denn jetzt wohl schreit? Es ist als Richtlinie, Einordnung, zu verstehen. Aber ob dies nun zutrifft oder du dich damit (nicht) identifizieren kannst, liegt ganz bei dir. Manche Familien macht das überhaupt nichts aus, andere fühlen sich dadurch stark belastet. (Nehmen wir z.B. hochsensible Personen, die das Schreien ihres Babys körperlich spüren, aber dazu kann ich gerne in einem anderen Text noch einmal mehr eingehen). Aber. Es gilt immer:
Du selbst entscheidest, wie du dein Baby wahrnimmst. Benenne es, wie du willst. Wenn du dich mit dem Begriff „Schreibaby“ wohlfühlst, dann ist es das. Wenn dir „High Need Baby“ passender vorkommt, dann ist das ebenfalls legitim. Ich denke die Begrifflichkeiten verwischen hier etwas. Für den Einen sind es ganz unterschiedliche Charaktermerkmale, für den Anderen gleich. Da der Begriff “High Need Baby“ kein klinisch angewandter ist, wird oftmals von „Schreibaby“ oder “Baby mit Regulationsstörung“ gleichermaßen gesprochen.

Was du tun kannst
Jetzt hast du einen kleinen Einblick bekommen, was genau ein „High Need Baby“ oder ein „Schreibaby“ ist. Egal, welchen Begriff du wählst, es ist und bleibt eine große Herausforderung im Alltag. Was also tun?
Tja. Da liegt die Krux. So genau kann dir das keiner sagen. Jedes Baby ist individuell. Doch eins ist sicher:
Ruhe bewahren! Hol dir Unterstützung! Such nach Gleichgesinnten (im Internet, zum Austausch).
Im Zweifelsfall wende dich an eine Schreiambulanz. Dort kennen die sich bestens aus mit „High Need Babys“ „Schreibabys“ und Regulationsstörungen.
Du fragst dich, wo du denn bitte Unterstützung her bekommen sollst?
Frag Freunde. Nächste Verwandte. Wende dich an eine Beratungsstelle vor Ort (Schreiambulanz, Erziehungsberatungsstelle). Besuche eine Therapie, wenn dich diese Erfahrung stark belastet (schau mal bei Angebote nach). Frag bei deiner Krankenkasse nach einer Haushaltshilfe (die Kosten werden meist in den ersten Wochen/ Monaten nach der Geburt übernommen). Schau, dass du nicht mehr kochen oder waschen musst. Bezahle vorübergehend Menschen dafür (Lieferdienst, Waschsalon). Und wenn das nicht möglich sein sollte: Frag liebe Menschen in deinem Umfeld, ob die das für dich zeitweise übernehmen. Das ist keine Schande. Haben wir selbst auch so gemacht. Vielleicht gibt es einen Nachbarschaftsdienst bei dir auf der Straße? Großelternprojekt? Frag bei den Frühen Hilfen vom Jugendamt nach (keine Angst davor, die sind nett und dir passiert nichts!).
Und nutze jedes Tool der Entlastung! Es gibt wundervolle Federwiegen, mit oder ohne Motor (die mit Motor kann ich zu 100%! empfehlen!), sie geben deinem Baby vorübergehend Halt. Doch bitte nicht nur und nicht immer, informiere dich und setze es mit Bedacht ein. Kauf dir eine gute Tragehilfe (am Besten machst du eine Trageberatung, um eine Trage zu finden, die ganz auf dich und dein Kind abgestimmt ist! Und damit du weißt, worauf du achten musst).

Last but not least
Und zu guter Letzt: Verabschiede dich von Perfektionismus! Alles „richtig“ machen zu wollen. Vergiss dich selbst nicht und kümmere dich gut um dich. Denn, das kann ich dir aus eigener Erfahrung sagen, es braucht unter Umständen ganz schön lange, sich von dieser überwältigenden Erfahrung zu erholen.
Ja, es ist anstrengend, ein „High Need Baby“ zu haben! Nein, es ist kein Beinbruch, keine Krankheit, keine Diagnose (im eigentlichen Sinne). Diese Babys sind einfach nur deutlich sensibler als andere, was aber nicht schlechter ist.
Egal ob High Need, Schreibaby oder Regulationsstörung. Dein Baby ist genau richtig, so wie es ist! Mach nicht den gleichen Fehler wie ich und versuche, an deinem Baby zu schrauben, dir selbst die Schuld dafür zu geben oder es anders machen zu wollen. Du und dein Baby, ihr geht euren ganz eigenen Weg – am Besten gemeinsam in Annahme und Akzeptanz, dass es eben so ist, wie es ist.
„High Need Babys“ sind ganz besondere Babys die später zu ganz besonderen Menschen heranwachsen!
Und wenn du bis hier hin gelesen hast, obwohl das Alles dich und dein Baby gar nicht betrifft. Dann lies Folgendes:
Wie du unterstützen kannst
Du kennst das nicht? Dein Baby war nicht so intensiv? Herzlichen Glückwunsch! Es hat rein gar nichts mit dir und deinen Fähigkeiten zu tun – du hattest Glück!
Nein. Es ist großartig, dass du dich trotzdem informierst. Und das bestimmt, weil du ähnliche Erfahrungen wie oben beschrieben schon einmal gehört oder gelesen hast. Was du jetzt tun kannst, wenn du auf eine Mama (oder einen Papa) triffst, die stark belastet sind durch ein “High Need Baby“ oder “Schreibaby“:
- Höre zu!
- Sage nichts! außer: ich bin für dich da!
- Bewerte nicht – das Verhalten des Babys hat nichts mit dem Verhalten der Eltern zu tun
- Gib bitte absolut niemals nie Ratschläge! Ratschläge sind auch Schläge – halte dich am Besten immer daran! (außer du wirst danach aktiv gefragt – dann braucht diese Person einen Rat, den du ihr geben kannst. Aber bitte niemals ungefragt, das wirkt unter Umständen nur noch belastender)
- Biete deine Hilfe an
- Oder noch besser: Hilf einfach. Bring was Leckeres zu Essen mit, wenn ihr euch trefft. Egal ob für den Moment oder zum Warm machen: Glaub mir, mit “High Need Baby“ kommt man nicht so leicht dazu zu kochen, geschweige denn einkaufen, essen…
- Biete an, mit dem Baby spazieren zu gehen (das kann unter Umständen schwierig werden, wenn man Glück hat, passt es aber gerade)
- Trefft euch draußen irgendwo (meist ist es unterwegs einfacher als zu Hause)
- Sei nie nachtragend, wenn sich deine Freunde mit intensivem Baby nicht mehr melden – es hat selten etwas mit dir oder eurer Freundschaft zu tun, sondern vielmehr mit der intensiven Zeit mit dem Baby
- Besser: melde du dich regelmäßig und frage nach, wie es der Familie geht. Was auch hilft: ablenken und über Belangloses reden! Pack deine Smalltalk Fähigkeiten mit einer extra Portion Humor aus
- und auch wenn das klar ist, greife nie auf absolut nichtssagende Floskeln zurück: Entspann dich doch mal/ Mein Baby hat auch viel geweint/ Entspannte Eltern entspanntes Kind/ stell dich nicht so an – machen alles nur noch schlimmer

Ich hoffe, dieser Beitrag hat dir helfen können – egal, wo du gerade in deinem Leben (mit oder ohne Baby) stehst. Sollte etwas deiner Meinung nach fehlerhaft sein, Lücken aufweisen oder ich habe mich im Ton vergriffen – dann schreib mir doch gerne dein Feedback! Ich freue mich über jeden Austausch, jede Ergänzung und natürlich jedes nette Wort.
Sei lieb zu den Menschen in deinem Umfeld – wer weiß, was sie gerade durchmachen.